Eine Fallstudie über die unsichtbaren Sprengfallen einer Re-Organisation und die Kunst, Schnittstellen zu gestalten.
Es ist eine immer wieder frustrierende Erfahrung in Organisationen: Kluge Köpfe haben viel Energie aufgebracht, um eine saubere, logische Reorganisation aufzusetzen. Die neuen Strukturen sind auf dem Papier brillant. Die Personen für die neuen Rollen sind benannt. Die Teams sind aufgeschlossen, wenn auch ein wenig skeptisch. Alle suchen die eigene Rolle möglichst schnell auszufüllen. Und trotzdem: Es knirscht, es gibt Konflikte, die Performance leidet. Man fragt sich: Wie kann das sein?
Ich habe diese Situation in einem Logistik-Unternehmen erlebt. Der Bereich „Outbound“ wurde von einer regionalen in eine strikte Prozess-Logik umgebaut: Planung (das Gehirn), Steuerung (das Kontrollzentrum) und Versand (die ausführende Hand). Eine saubere End-to-End-Logik.
Der Abteilungsleiter der „Steuerung“ wollte vor die Lage kommen und proaktiv vor der eigenen Tür kehren, sein neu zusammengestelltes Team nach allen Regeln der Kunst aufstellen. Wir schärften das Selbstverständnis, klärten die Rollen, verhandelten die Erwartungen zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. Das Ergebnis war, wie es sein sollte: ein hochmotiviertes, klar orientiertes Team, das seine Funktion im Gesamtprozess verstanden hatte und selbstbewusst auftrat.
Und trotz allem tauchten schnell die klassischen Probleme auf: unklare Verantwortlichkeiten, holprige Übergaben, mangelnde Abstimmung. Was war passiert?
Der Erfolg der Arbeit mit dem Steuerungsteam wurde zur Zündschnur am Sprengsatz der Reorganisation.
Wenn die beste Antwort zur falschen Frage wird

Schnittstellenmanagement gestaltet die Zusammenarbeit zwischen Bereichen: Es macht Übergaben eindeutig, legt Zuständigkeiten und Entscheidungswege fest und verankert Regeln & Rhythmen. So wird lokale Exzellenz End-to-End integriert, Reibungsverluste sinken, Durchlaufzeit und Qualität steigen.
Typische Stolperfallen
Übergaben ohne Abnahmekriterien
Was „fertig“ ist, versteht jede Seite anders; es entstehen Nacharbeit und Verzögerungen. (Schnittstellen sind besonders fehleranfällig – Standardisierung hilft.)
Unklare Zuständigkeiten
Niemand weiß, wer entscheidet; Themen schleifen oder werden doppelt entschieden. (Eine klare Zuordnung von Zuständigkeiten schafft Verbindlichkeit.)
Kennzahlen ohne Folgen
Es wird viel berichtet, aber ohne Konsequenzen; Probleme bleiben. (Kennzahlen müssen mit Maßnahmen, Verantwortlichen und Fristen verknüpft sein.)
Einseitige Erwartungsverträge
Team A erwartet X von Team B, ohne es gemeinsam zu vereinbaren; Enttäuschung ist vorprogrammiert. (Vereinbarungen gehören explizit aufgeschrieben.)
Silos statt End-to-End-Betrachtung
Bereiche optimieren lokal und verschlechtern den Gesamtfluss (mehr Übergaben, Wartezeiten, Fehler). (End-to-End-Denken reduziert Verschwendung.)
Ein Teil der neuen Klarheit im Steuerungsteam waren präzise Erwartungen an die anderen Abteilungen. Das Problem war, um es mit den Worten des Mediators Gerfried Braune zu sagen: „Erwartungen sind einseitige Verträge, von denen der andere nichts weiß.“
Es gab keinen Ort, an dem diese Erwartungen mit der Planung oder dem Versand hätten verhandelt werden können. Es folgte eine Eskalation:
- Das Steuerungsteam, unzufrieden mit der Qualität der Pläne, fühlte sich bemüßigt, diese zu überarbeiten und anzupassen.
- Das Planungsteam, das viel Gehirnschmalz in die Optimierung gesteckt hatte, empfand dies als unzulässige Einmischung, flagrantes Misstrauen und schlichtweg dem Geist der Reorganisation widersprechend.
Alle meinten das „Richtige“ zu tun – und erzeugten doch ein massives Problem.
Die systemische Diagnose: Warum lokale Optimierung das System sprengt
Die neue Prozessorganisation war logisch einwandfrei. Sie trennte das strategische Denken (Planung) von der operativen Echtzeit-Überwachung (Steuerung) und der physischen Ausführung (Versand). Diese Trennung sollte klassische Konflikte vermeiden und Effizienz schaffen.
Doch die Reorganisation hatte eine entscheidende Variable übersehen: den unterschiedlichen Reifegrad der neuen Einheiten.
- Das Vakuum der Planung: Die neue Planungsabteilung wurde quasi aus dem Nichts geschaffen. Ihr fehlte eine historische Datenbasis, strategische Kompetenz musste erst aufgebaut werden, und sie wurde von den operativen Einheiten schnell als „Elfenbeinturm“ wahrgenommen, deren Insassen die raue Praxis nicht mehr verstehen.
- Der Turbo der Steuerung: Dieses Team hatte, auch durch unsere Begleitung, seine Prozesse und seine Identität schnell gefunden. Sie waren der reifste Teil im System.
- Die Routine im Versand: Hier veränderte sich am wenigsten. Es war nicht wirklich nötig, alte Gewohnheiten über Bord zu werfen und neue, präzise Übergabeprozesse anzuwenden, solange das vorne im Prozess nicht sauber aufgesetzt wurde.
In dieser Konstellation bauten sich in der hochperformanten Steuerungsabteilung massive Spannungen auf. Sie lieferte KPI-Reportings an die Planung, doch die war noch gar nicht in der Lage, diese Echtzeit-Daten in kluge, taktische Anpassungen umzuwandeln. Die Feedbackschleife war kaputt bevor sie richtig zu laufen begann.
Die Steuerung wurde zum frustrierten Kontrollturm, der alles überwachte, aber wenig bewegen konnte, weil die Partner upstream (Planung) und downstream (Versand) noch nicht auf dem gleichen Level agierten.
Die fehlende Intervention: Den Raum der Übergabe gestalten
Die Lektion aus diesem Fall ist eine der wichtigsten in der Organisationsentwicklung: Eine Reorganisation ist erst dann abgeschlossen, wenn die Schnittstellen verhandelt sind.
Es reicht nicht aus, brillante Teams zu entwickeln. Wenn es keinen definierten, moderierten Prozess gibt, in dem diese Teams ihre gegenseitigen Erwartungen, ihre Übergabepunkte und ihre Kommunikationsregeln aushandeln können, wird ihre jeweilige Exzellenz zu Reibungsenergie, die das System lähmt.
Meine Arbeit als Organisations-Notarzt oder System-Architekt beginnt oft genau hier. Es geht nicht nur darum, ein Team fit zu machen. Es geht darum, die Räume zwischen den Teams zu gestalten. Es geht darum, die „einseitigen Verträge“ in belastbare, gemeinsame Vereinbarungen zu überführen.
Die eigentliche Kunst besteht darin, von der lokalen Optimierung zur systemischen Integration zu kommen. Denn am Ende des Tages ist es egal, wie perfekt jedes einzelne Zahnrad ist, wenn sie nicht präzise ineinandergreifen.
Ihr nächster Schritt
Von der Diagnose zur Vereinbarung
Teams leisten Top-Arbeit – an den Schnittstellen hakt es. Das ist kein Wille-Problem, sondern Architektur:
Erwartungen wurden nie gemeinsam verhandelt. Die Lösung: sichtbar machen – verhandeln – vereinbaren.
Diagnose mit dem Schnittstellen-Canvas
Erkennen Sie „einseitige Verträge“ und klären Sie Übergaben, Kriterien und Zuständigkeiten – auf einer Seite, gemeinsam mit den Beteiligten.
1 Seite, sofort einsetzbar – inkl. Felder für Übergaben, Kriterien, Zuständigkeiten & Review-Rhythmus.
Moderierte Klarheit schaffen
Bei verhärteten Fronten sorgt ein neutraler Dritter dafür, dass aus Gespräch belastbare Vereinbarungen werden.
Gemeinsam Canvas ausfüllen, Lücken schließen, 30-Tage-Review terminieren.

Dieter Bickenbach, der Notarzt für Organisationen
Co-Autor: Gemini 2.5 pro
Dieter Bickenbach ist Organisations-Notarzt. Er hilft Führungskräften, in festgefahrenen Situationen schnell wieder handlungsfähig zu werden. Seine Methode: Akut-Intervention, systemische Erstuntersuchung und radikale Ehrlichkeit. Anstatt fertige Lösungen zu verkaufen, befähigt er Organisationen, ihre eigenen Probleme nachhaltig zu lösen. Mit über 20 Jahren Erfahrung in Organisationskrisen und einem Faible für systemische Zusammenhänge bringt er Ruhe in den Sturm – und manchmal auch einen trockenen Kommentar, wenn es die Situation verträgt.
Der Resonanzgarten
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