Stellen Sie sich vor, Sie leiten eine wichtige Einheit der IT eines großen Konzerns. Ihr Job ist es, für absolute Stabilität zu sorgen. Ihr größtes Lob ist es, wenn man nichts von Ihnen hört, wenn alles geräuschlos und smooth läuft. Sie sind die Architekten im Hintergrund, die Hüter der Systeme, die Garanten der Betriebssicherheit. Ihre Kultur ist auf Präzision, Risikominimierung und Verlässlichkeit geeicht.

Und dann kommt dieser eine Anruf. Der Anruf, der alles auf den Kopf stellt. „Was würden Sie davon halten, nach Berlin zu gehen und eine komplett neue, agile Einheit aufzubauen. Den Software-Teil unserer Produktinnovationen treiben. Eine Art internes Startup.“

Kennen Sie diesen Moment? Diesen Kulturschock auf Ansage? Gestern noch waren Sie der Gott der Stabilität, morgen sollen Sie zum Geschwindigkeits-Junkie werden. Von den geordneten „Hasenkästen“ der Konzernzentrale in die hippe Startup-Kultur der Hauptstadt. Das ist kein einfacher Jobwechsel. Das ist ein Identitätswechsel.

Hier reicht es nicht, ein neues Mission Statement an die Wand zu nageln. Hier braucht es einen fundamental anderen Umgang miteinander, ein völlig neues Selbstverständnis, einen neuen gemeinsamen Herzschlag, einen gemeinsamen Wertekatalog, der mit der alten Heimat so gut wie nichts mehr gemein hat.

Wenn der Prozess wichtiger ist als das Ergebnis

Die beiden Verantwortlichen dieser neuen Einheit wussten das. Sie waren clever. Sie bezogen nicht nur neue Räume mit einem besonderen Flair, sondern infizierten sich und ihr wachsendes Team bewusst mit neuen Methoden, neuen Kooperationspartnern und neuen Mindsets. Sie schufen ein Biotop, in dem die neue Kultur wachsen konnte.

Was aber noch fehlte, war das explizite Regelset. Das Bewusstmachen der neuen Spielregeln, die sich aus dem Auftrag und der gelebten Praxis langsam entwickelten. Dies war kein Notfall-Einsatz. Es war ein entscheidender Baustein in der System-Architektur dieser neuen Einheit.

Aufgrund einer langen, vertrauensvollen Zusammenarbeit landete der Auftrag bei mir. Und die beiden Verantwortlichen ließen sich auf eine damals noch recht neue, wirkmächtige Methodik ein, die ich mit Kollegen entwickelt hatte (mycle.geschaeftswarenladen.com). Wir wollten gemeinsam das neue Selbstverständnis und den Wertekatalog erarbeiten.

Und hier passierte etwas, was meine eigene Sicht auf Veränderungsprozesse nachhaltig prägen sollte.

kulturwandel unternehmen; unternehmenskultur verändern

Kultur ist der gelebte Handlungs- und Regelrahmen einer Organisation. Wirksam wird Kulturwandel, wenn Teams gemeinsam Prinzipien, Verhaltensanker und Working Agreements klären – als Basis für Orientierung, Sicherheit und dezentrale Entscheidungen.

 

Beispiele für Verhaltensanker

Wir sagen Wahrheiten früh – ohne Nachtreten.

Frühzeitige Offenheit senkt das Risiko, dass Probleme eskalieren, und stärkt psychologische Sicherheit: Man darf Risiken ansprechen, ohne abgestraft zu werden. „Ohne Nachtreten“ heißt: sachlich, respektvoll, lösungsorientiert.

Entscheidungen + Begründung veröffentlichen (max. 24 h)

Wenn Beschlüsse sichtbar dokumentiert werden (inkl. wer entscheidet und warum), reduziert das Flurfunk, Doppelarbeit und endlose Nachfragen. Entscheidungsprotokolle/-rollen wie Driver/Approver/Mitwirkende/Informierte schaffen klare Erwartungen.

Feedback beidseitig, spätestens 48 h nach Ereignis

Feedback wirkt am besten zeitnah, konkret und umsetzbar; die 48-Stunden-Regel hält Gespräche nah am Geschehen und fördert Lernen statt Rechtfertigung. „Beidseitig“ heißt: Führung und Team holen aktiv Rückmeldungen ein – nicht nur „nach unten“ geben.

Konflikte ins Plenum, nicht in Nebenkanäle

Sachkonflikte im Raum zu klären verhindert das Reden über andere statt miteinander und macht abweichende Sichtweisen nutzbar. Teams lernen so, Uneinigkeit produktiv zu verarbeiten – statt sie zu vertagen.

Commitments im Q-Review prüfen.

Ein quartalsweiser Review-Rhythmus hält Ziele und Zusagen verbindlich und erlaubt Kurskorrekturen; dazwischen helfen kurze Check-ins als Frühwarnsignal. So bleiben Ausrichtung und Verantwortlichkeit hoch – ohne Mikromanagement.

Bereits nach einem einzigen, intensiven Workshop-Tag hatte das Kernteam das, was es brauchte. Auf Grundlage einer Reihe individueller „Briefe aus der Zukunft“ hatten sie ein gemeinsames Bild ihrer Identität und einen daraus abgeleiteten Wertekatalog formuliert. Sie hatten eine kulturelle Brücke gebaut – von der alten Welt der Stabilität, die sie würdigten, zur neuen Welt des permanenten Wandels, auf die sie sich freuten.

Ich war überglücklich. Die Methode funktionierte! Aber der eigentliche Game-Changer war ganz etwas anderes.

Der Moment, in dem der Kunde dich eines Besseren belehrt

Unsere Methodik war als Zyklus konzipiert, mit mehreren Schritten, die aufeinander aufbauen. Nach diesem ersten Tag war für mich klar: Jetzt kommt der nächste logische Schritt, die Konkretisierung, die Umsetzungsplanung. Ohne ihn, bleibt alles im unverbindlichen Graubereich.

Doch der Kunde sagte: „Danke. Das war’s. Wir haben, was wir brauchen.“

Ich war perplex. Mitten im Prozess aufhören? Wo war der Maßnahmenplan? Die konkreten To-dos? Die messbaren Ergebnisse?

Es hat einen Moment gedauert, bis ich die Tiefe dieser Entscheidung verstanden habe. Es war eine wichtige Lektion für mich als Berater.

Die Erkenntnis: Es ging nie primär um einen fein ausformulierten Wertekatalog als Dokument und daraus abzuleitende SMARTe Ziele. Es ging um den Prozess der gemeinsamen Verständigung. An diesem Tag hatte die Gruppe nicht nur Werte definiert. Sie hatten sich auf einer tiefen, persönlichen und normativen Ebene darüber ausgetauscht und verständigt, was ihnen WIRKLICH wichtig war.

  • Sie hatten einen gemeinsamen Orientierungsrahmen geschaffen.
  • Sie hatten eine gemeinsame Sprache gefunden.
  • Sie hatten ein gemeinsames Fundament gegossen.

Das allein reichte aus, um ihnen die nötige Sicherheit und den Kompass für ihr weiteres, eigenständiges und selbstverantwortliches Handeln zu geben. Ob danach noch formale Umsetzungsschritte definiert wurden, war zweitrangig. Der entscheidende kulturelle Anker war gesetzt.

Kultur ist kein Projekt, sondern ein gemeinsamer Rahmen

Dieser Fall hat meine Perspektive radikal erweitert. In der Begleitung von Veränderungsprozessen fokussieren wir uns oft viel zu sehr auf die Realisierung definierter Ziele und die dazugehörigen Maßnahmenpläne. Wir denken in linearen Schritten von A nach B.

Was aber, wenn das nicht einmal die halbe Miete ist? Was wäre, wenn es viel wichtiger wäre, einen Raum zu schaffen, in dem ein gemeinsamer Handlungs- und Regelrahmen entstehen kann?

Denn genau das ist der Kern von Unternehmenskultur: der meist unbewusst entstandene Handlungs- und Regelrahmen, der das tägliche Miteinander steuert. Wenn es gelingt, diesen Rahmen gemeinsam, bewusst und explizit zu gestalten, setzt das eine enorme Energie frei. Es schafft die Basis für Eigenverantwortung und dezentrale Entscheidungen.

Manchmal ist die wirkungsvollste Intervention nicht die, die einen detaillierten Plan produziert, sondern die, die eine tiefe, gemeinsame Verständigung ermöglicht.

Aber was passiert, wenn dieser Rahmen nicht nur für eine neue, enthusiastische Einheit geschaffen werden muss, sondern in einem bestehenden System aktiv beschädigt ist?

Natürlich ist der Aufbau einer neuen Kultur etwas anderes als die Reparatur einer beschädigten. Der Hebel bleibt aber derselbe: der gemeinsam geschaffene Handlungsrahmen, auch wenn die Ausgangslage eine völlig andere ist.

Wenn Misstrauen die Zusammenarbeit lähmt, unausgesprochene Regeln die Performance sabotieren und Konflikte bereits zur Tagesordnung gehören,

wirkt Kultur nicht nur wie eine angezogene Handbremse – sie verursacht aktiv Schaden. Hier geht es zunächst einmal nicht um feinsinnige Architektur für die Zukunft, sondern um die Stabilisierung im Hier und Jetzt.

Genau das ist dann die Aufgabe des Organisations-Notarztes: den Schaden zu begrenzen, die Ursache zu diagnostizieren und die Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Wenn Sie das Gefühl haben, es braucht eine dringende Reparatur Ihres kulturellen Fundaments geht, dann lassen Sie uns sprechen. In einem vertraulichen, kostenlosen Erstgespräch klären wir, welche Dynamiken Ihr System bremsen und wie Sie zu einem kraftvollen, gemeinsamen Handlungsrahmen (zurück)finden.

Dieter Bickenbach, der Notarzt für Organisationen

Dieter Bickenbach, der Notarzt für Organisationen

Co-Autor: Gemini 2.5 pro

Dieter Bickenbach ist Organisations-Notarzt. Er hilft Führungskräften, in festgefahrenen Situationen schnell wieder handlungsfähig zu werden. Seine Methode: Akut-Intervention, systemische Erstuntersuchung und radikale Ehrlichkeit. Anstatt fertige Lösungen zu verkaufen, befähigt er Organisationen, ihre eigenen Probleme nachhaltig zu lösen. Mit über 20 Jahren Erfahrung in Organisationskrisen und einem Faible für systemische Zusammenhänge bringt er Ruhe in den Sturm – und manchmal auch einen trockenen Kommentar, wenn es die Situation verträgt.

Der Resonanzgarten

Die Bibliothek des Organisations-Notarztes & System-Architekten